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1. Der Beginn eines Alptraums

Mit leisen klingelnden Tönen, unterlegt durch ein sphärisches Rauschen, beginnt „Arlington Road“, doch was hier noch harmlos erscheint, wird sich bald zu einem Alptraum entwickeln, aus dem Michael Farraday nicht mehr aufzuwachen scheint. Regisseur Mark Pellington verschiebt hier zunächst den Vorspann nach hinten, um dadurch direkt in die Handlung des Filmes einzusteigen. Nur Schemenhaft erscheint eine Gestalt, die offenbar ein rotes T-Shirt trägt. Doch bald wird sich herausstellen, daß dieser Schein trügt und daß sich viele Dinge erst auf den zweiten oder gar dritten Blick erklären lassen. Alptraumhaft ist auch die gesamte Inszenierung des Anfangs. Deutlich überbelichtet erweckt der Film den Eindruck, hier „nur“ einen bösen Traum zu inszenieren, aus dem es schon bald ein Erwachen geben wird. Schemenhaft erscheint die Gestalt, bei der weder Alter, Herkunft oder Geschlecht auszumachen ist. Ebenfalls verschwommen sind dann die vorwärts stolpernden Füße der Person erkennbar, ehe diese dann etwas schärfer wieder in der Totalen zu sehen ist. Zu erahnen sind nun schon Häuser und die Straße, auf welcher die Person läuft. Die Anordnung der Gebäude und das Grün einiger Bäume im Hintergrund lassen erahnen, daß es sich hier um eine ruhige Siedlung handeln muß, in der Personen des Mittelstandes wohnen könnten. Nun werden die Augen der Person überblendet und jetzt wird deutlich, daß es sich hierbei um einen Jungen handelt. Seine blauen Augen liegen über der Einstellung, als sehe er sich selbst, wie er über die Straße läuft. Und in der Tat beginnt hier auf der Tonebene eine Art Rückblende, bei der Regisseur Pellington vor allem mit akustischen Mitteln erzählt, was gerade eben geschehen ist. Als ob ihn Geister rufen, liegen Stimmen in der Luft, die den Jungen immer wieder auffordern, etwas zu tun. Es ist aber zunächst unklar, worum es geht. Auch hier erzählt Pellington immer noch bruchstückhaft die Hintergründe und verläßt sich vielmehr auf die Wirkung dessen, was unbekannt ist, denn die Verletzung des Jungen, die beim ersten Hinsehen lediglich den Eindruck erweckt, er trage ein harmloses rotes T-Shirt, verschweigt er hierbei noch. Die Einstellung auf die Füße, die sich beinahe tänzelnd um die Dehnungsfuge im Asphalt bewegen, lassen vielmehr auf ein Spiel schließen und nicht auf die Ernsthaftigkeit der Situation. Das Verdrehen der Augen nach oben könnte auch ein suchender Blick sein, während ihn die Stimmen unaufhörlich auffordern, weiterzumachen und ihn einen Feigling („Chicken or what?“) nennen. Das leise Klingeln ist längst durch ein sphärisches Rauschen verdrängt worden und die Bilder des Jungen, der nun in Nahaufnahmen und unscharfen Profilaufnahmen zu sehen ist, lassen weiterhin auf einen bösen Traum schließen. Da steigert sich das Rauschen zu einem Donnern und der Junge öffnet den Mund wie zu einem lautlosen Schmerzensschrei. Er weiß, daß ihn ohnehin niemand hören wird, denn bislang bleibt er auf dieser Straße völlig allein. Das aufbrausende Geräusch, daß, wie später deutlich wird, die Explosion von Feuerwerkskörpern nachahmt, hat aber nun deutliche Spuren hinterlassen. Jetzt zeigt sich, daß der Junge keinesfalls spielt, sondern sich mit letzter Kraft Meter um Meter vorankämpft. Erste Tropfen von Blut fallen auf die Straße und bald darauf auf die Schuhe, was deutlich macht, daß es sein Blut ist. Erneut offenbart sich das Drama nur mosaikhaft, denn erst als die Kamera an ihm nach oben fährt, zeigt die blutverschmierte Hose, daß es sich auch nicht um ein harmloses Nasenbluten handeln kann, das vielleicht in kindlichem Spiel zustande gekommen sein könnte. Auch welcher Wagen da gerade in die Arlington Road einbiegt, ist zunächst unbekannt und nach all dem, was bislang zu sehen ist, würde es mich auch nicht verwundern, wenn es ein Verfolger des Jungen, der nun erstmals deutlich in einer Großaufnahme zu sehen ist, sein könnte. Sein schleppender Gang wird nun durch den einsetzenden Baß unterstützt, was den Charakter des Gejagt-werdens deutlich unterstreicht. Doch der Mann, es ist Michael Farraday (Jeff Bridges), steigt aus dem Wagen, als er den Jungen sieht und läuft in helfender Absicht zu ihm. Erst als er ihn erreicht hat, fährt die Kamera um den Jungen herum und offenbart das ganze Ausmaß der Verwundung. Der Arm ist fürchterlich verbrannt und das Blut des Jungen hat seine Kleidung tiefrot verfärbt. Er fällt dem um Hilfe rufenden Michael in den Arm und jetzt erst beginnt auch der Junge hörbar zu schreien, wissend, daß es bislang vergebens gewesen wäre, denn niemand hätte auf sein Rufen reagiert. So hört ihn jetzt aber Michael, der im quasi ein Forum für seine Schmerzensschreie bietet. Doch auch Michaels Ruf nach Hilfe verhallt ungehört in der Straße. Die Kamera, die in schnellen Bewegungen um die beiden kreist, unterstützt dadurch das Gefühl von Rat- und Hilflosigkeit und versinnbildlicht die emotionale Lage des Michael Farraday, dessen bislang so geordnete Welt mit diesem Aufeinandertreffen aus der Bahn geworfen werden wird. Auch die emotionale Lage, die ein unbedarfter Ersthelfer an einem Unfallort empfindet, spiegelt sich hier wieder, hat er doch keinerlei Anhaltspunkte, was zu tun ist. Er ist mit der Situation völlig überfordert. Überhaupt steht die Kamera sehr tief und verstärkt durch diese gänzlich unkonventionelle Sehweise den Charakter eines Alptraumes, in dem nun auch Michael Farraday gefangen ist. Es bleibt ihm schließlich nur, den verletzten Arm mit seiner Krawatte abzubinden und den Jungen selbst ins Krankenhaus zu fahren. Längst ist klar, daß es sich hierbei um keinen bösen Traum, sondern um die Realität handelt, denn zu ernst und real ist doch die Lage. Immer noch von dem einzigen Gedanken getrieben, den Jungen zu retten, läuft Michael, das Kind im Arm haltend, durch die Flure der Notaufnahme, die durch die helle Ausleuchtung und die Überbelichtung beinahe schon den Eindruck einer Jenseitsphantasie erwecken und ruft nach Hilfe. Doch nun verhallen seine Schreie nicht ungehört, sondern Ärzte und Pflegepersonal eilen herbei. Es ist das erste Mal, daß Regisseur Mark Pellington einen winzigen Augenblick der Entspannung ermöglicht, der aber sofort wieder zerstört wird, als die Schwester nach dem Namen des Jungen fragt. Sowohl Michael wie auch ich als Zuschauer muß erkennen, daß beinahe nichts über der Jungen bekannt ist, der uns gleich in den ersten Minuten schon so in Atem gehalten hat. Michael kann in einer Mischung aus Unverständnis, wie jemand in einer solchen Situation nur eine solche Frage stellen kann und der schlagartigen Erkenntnis, daß er nicht einmal solch scheinbar triviale Dinge wie den Namen des Jungen weiß, nur barsch antworten „I don´t know his name!“ 2. Nichts ist, wie es scheint Mit Michaels Antwort „I don´t know his name!“ beginnt nun der Vorspann, doch auch hier verwehrt Regisseur Pellington Momente der Ruhe. Vielmehr setzt er seine Achterbahnfahrt durch alptraumhafte Szenerien fort, in dem er scheinbar harmlose Motive aus einer Siedlung zeigt. Durch die direkte Anbindung von Michaels Satz „I don´t know his name!“ an den Vorspann wird bereits hier klar, daß die meisten Menschen, die selbst in einer solch überschaubaren Gegend wohnen, in den meisten Fällen kaum die Namen der Leute wissen, die Tür an Tür mit ihnen wohnen. Der Titel des Filmes, „Arlington Road“, versinnbildlicht in diesem Zusammenhang, daß es sich bei den Bewohnern solcher Wohngegenden oftmals um Personen handelt, die durch die Nennung des Straßennamens oder des Viertels eine eigene Identität und dadurch ein Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft zu erlangen versuchen. Bereits die Einleitung des Filmes aber macht deutlich, daß es sich hierbei um die trügerische Illusion eines Mikrokosmos handelt, in der Gemeinschaft nicht mehr ist als ein Lippenbekenntnis, denn weder dem Jungen noch Michael kam auch nur eine Menschenseele zu Hilfe. In dem Vorspann nun, der durch seine collagenartige Montage ein Kunstwerk für sich darstellt und wie der Eintritt in eine Twilight Zone wirkt, verdeutlicht Pellington die ganze Grausamkeit einer solchen Siedlung, wobei ein deutlicher Bezug zu David Lynch nicht nur allein dadurch entsteht, daß die Musik zu „Arlington Road“ von Angelo Badalamenti stammt, der den Soundtrack zu zahlreichen Werken Lynchs komponierte. Vielmehr wirken zahlreiche Motive und Einstellungen wie Zitate aus Lynchs Werk „Blue Velvet“ (USA 1986), wobei Regisseur Pellington hier trotzdem geschickt eine andere Richtung einschlägt. Im Gegensatz zu Lynch verleiht er den Einstellungen ihre symbolhafte und oft unheilschwangere Bedeutung dadurch, indem er gezielt farbliche Verfremdungen des Filmmaterials einsetzt. Wie im Gegenlicht erscheint ein Gartenzaun. Unüberwindbar erhebt er sich vor mir, doch ein Hintergrund, den es zu schützen gilt, ist nicht erkennbar und wird auch im Dunkeln bleiben. Wie Palisaden wirkt er mit seinen spitzen Enden abweisend und bedrohlich. Als hätte sich ein ungebetener Gast daran verletzt, läuft das Bild, dessen Hintergrund bislang weiß war, blutrot an und zeigt außerdem, daß die Unschuld, die bislang hinter dieser netten Fassade vermutet wurde, schon lange nicht mehr existiert. Die nächste Einstellung zeigt die Siedlung in einer Art Negativaufnahme als Zeichen dafür, daß hier längst nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Doch die Häuser sind zu weit entfernt, als daß sie einen Blick in ihr Inneres zuließen. Die eigentlich weißen Wolken hängen durch die Farbveränderung wie ein schlimmes Omen über den Dächern und kennzeichnen diese Siedlung als einen Ort des Bösen. Ein Hund, der im Gras vor einem Haus liegt und am Gras nagt, wirkt wie Zerberus, der Höllenhund der griechischen Antike, denn das Tier wirkt wie eine bedrohliche Bestie, die nur darauf zu warten scheint, einen Eindringling zu zerfleischen. Die Kameraposition ist zu tief, um einen Blick von oben herab zu ermöglichen und so stehen Betrachter und Hund auf gleicher Höhe. Das Nagen des Tieres ist nicht zu hören, doch die Kamera fährt unerbittlich auf das Maul zu, was dieses bedrohlich wirken läßt. Überhaupt gönnt mir die Kamera keinen Moment der Ruhe. Unerbittlich fährt sie an den Zäunen entlang wie ein nervöser Betrachter, der hier zwar schnell weg möchte, aber durch eine seltsame Macht an diesen Ort gefesselt ist und immer näher an eines der Häuser herangehen muß. Sphärische Klänge, unverständliche Worte und Schreie untermalen diesen Vorspann, über dem das Straßenschild „Arlington Road“ wie ein Kreuz hängt. Ein Kind, dessen Gesicht kurz und beinahe in Schwarz-Weiß zu sehen ist, kündet von vergangenen Tagen, als der Nachwuchs hier aufwuchs. Doch diese Erinnerungen an Kindertage können nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier ein höchst feindseliger Ort inszeniert wird. Die Schaukeln sind längst verwaist und wiegen sich nur noch durch den Windhauch. Bilder werden teilweise übersetzt und verschoben aufeinander gelegt und deuten an, daß hier für verklärte Erinnerungen kein Platz sein darf. Blumen, die sich in einem Feld aneinanderreihen, werden durch die tief plazierte Kamera zu einem undurchdringlichen Urwald und erinnern wie das Gras in „Blue Velvet“, wo sich allerhand Getier tummelt und ein Blick unter die schöne Oberfläche Überraschendes, aber auch höchst Feindliches zu Tage bringen kann. Überhaupt verhindern nicht nur die Blumen oder Zäune ein Vorankommen. Die meisten Gegenstände dienen immer auch als eine Art Gefängnis oder Gitter. So schieben sich Äste zwischen die Kamera und verhindern somit die Aussicht auf den Himmel, Kleidungsstücke, die ohnehin nur das repräsentieren, was man nach außen hin von sich zeigen will, wehen im Wind und verbergen alles, was sich dahinter abspielt und auch die Fenster der Häuser sind geschlossen, als gelte es, mit nur allen erdenklichen Mitteln, den Einblick in das Innere der Häuser (und Menschen) zu verwehren. Und dann sind da immer wieder die Zäune, die sich drohend vor der Kamera auftun. Das Windspiel, das an einem Dachbalken hängt, wird von schräg unten aufgenommen und schwebt somit wie eine am Giebel hängende Leiche oder ein Damolkesschwert über dem Betrachter, das jederzeit herabzufallen droht. Unruhig schwankt es im Wind hin und her. Die sehr unruhige Kamera tut ein übriges, dem Windspiel den eigentlich angenehmen und beruhigenden Charakter zu nehmen. Diese Unruhe setzt sich bis zu den Schriftzügen des Vorspanns fort, denn diese werden bei Vor- und Zunamen der Beteiligten leicht versetzt dargestellt. Der Ventilator einer Klimaanlage kann mit seinen rasiermesserscharfen Flügeln, mit denen er die Luft zerteilt, eine Anlehnung an Alan Parkers „Angel Heart“ nicht verleugnen, wirkt aber zudem eine sogartige Wirkung aus, der ich mich nur schwer entziehen kann, nicht doch näher zu kommen. Ein kleines Vogelhaus wiegt sich leicht im Wind, doch auch diese Idylle ist eine trügerische, ist es doch viel zu unscharf und nur schemenhaft zu erkennen. Der Wechsel zwischen Schwarz und Weiß verdeutlicht, daß hier in dieser Umgebung zwar klare Grenzen zwischen Gut und Böse gezogen werden, daß diese aber auch schlagartig gewechselt werden können und das Etikett, das ein Mensch aufgeklebt bekommt, sehr schnell ausgetauscht werden kann, wenn sich dieser nur nicht standesgemäß verhalten mag. Und diese Auffassung, die eine Uniformität im Verhalten verlangt, um ja nicht anzuecken, wird bereits vorher durch die Einstellung reflektiert, in der ein Haus zu sehen ist, das nach rechts und links gespiegelt zu sehen ist und in der Mitte ineinander verläuft. Jede Seite ähnelt der gegenüberliegenden Seite. So mag es eben jene Lebensweise sein, die dem anderen abverlangt, ebenso zu leben, wie man selbst. In dieser Welt scheint es für Individualität keinen Platz zu geben, denn das würde sofort auffallen. Unauffällig und meist hinter ihren Zäunen, Häusern und Pflanzen versteckt leben hier Menschen, die Fremden lieber den Rücken zudrehen oder sie neugierig hinter den Vorhängen stehend beobachten, von Außen aber unerkannt bleiben, wie ein geschlossenes Fenster verrät. Lediglich einige wenige Personen sind hier auszumachen, doch auch von ihnen schlägt nur Feindschaft entgegen. Ein Baby, das sich für die Welt außerhalb des Hauses interessiert und zwischen den Stäben eines Geländer hervorschaut, wirkt, als sei es eingesperrt. Meisterhaft ist hierbei die Montage, die das spielende Kleinkind zeigt, als es sich nach vorne bewegt. Der nächste Schnitt zeigt dann einen nach vorne schnellenden Hund, der zubeißen will. Kurz bevor sein Maul zuschnappen kann, schneidet Pellington wieder auf das Kleinkind, dessen Kopfbewegung an die des Hundes anschließt, wodurch der Eindruck erweckt wird, das Kind werde zu einer bösartigen Bestie, die jeden Besucher sofort anfällt und zerfleischen will. Nahtlos schließt der Vorspann an die weitere Handlung an, die Farraday mit den Eltern des Jungen, dem Ehepaar Lang, zeigt. Und erneut wird Pellington dem Zuschauer nur eine kurze Pause gönnen, findet er sich doch noch immer in einem Alptraum, aus dem es keinerlei Entrinnen mehr gibt.