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III. Leonardo DiCaprio in William Shakespeare´s Romeo and Juliet? (USA 1997)

Nun läßt es sich nicht verleugnen, daß im Laufe der Jahre eine starke Veränderung der Kinolandschaft stattgefunden hat. Insbesondere durch die Errichtung zahlreicher Multiplex-Kinos, die den Kinogang zu einem Erlebnis machen sollen, in dem der Film nicht mehr die alleinige Attraktion ist, gelang es den Betreibern, ein überwiegend jüngeres Publikum anzuziehen. Daraus resultiert eine Entwicklung, bei der die großen Hollywood-Studios gerade dadurch dem Starkult Rechnung tragen wollen, indem sie nun nicht mehr einen Star aufzubauen versuchen, der ein besonders großes Publikum anspricht, sondern auch hierbei zielgruppenorientiert vorgehen. Das Engagement Leonardo DiCaprios für Baz Luhrmanns Film „William Shakespeare´s Romeo and Juliet“ darf wohl dazu gezählt werden.
Leonardo DiCaprio ist bis zu diesem Film längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Bereits 1991 und 1992 wirkt er in der Serie „Growing Pains“ (dt. Titel: „Unser lautes Heim“, zuletzt 1998 auf Pro Sieben) mit. Ebenfalls 1992 spielt er eine Nebenrolle in „Critters 3“, von dem er sich später deutlich distanziert: „Es war vermutlich einer der schlechtesten Filme alles Zeiten; wenn auch eine lehrreiche Erfahrung. Das wird mir nicht noch einmal passieren.“  Der Durchbruch sowie die Anerkennung als ernstzunehmender Schauspieler gelingt ihm 1993 an der Seite von Robert DeNiro in Michael Caton-Jones´ Film „This Boy´s Life“, den Leonardo DiCaprio daher bis heute gerne als sein eigentliches Kinodebut bezeichnet.  Noch im gleiche Jahr erhält er für seine Darstellung von Johnny Depps behindertem Bruder in „What´s eating Gilbert Grape?“, Regie Lasse Halström, eine Oscar-Nominierung. Es folgen Filme wie „The Basketball Diaries“ (1995, Regie: Scott Kalvert), „Total Eclipse“ (1995, Regie: Agnieszka Holland) sowie eine Nebenrolle in „Les Cent Et Une Nuits“ (dt.: „Hundert und eine Nacht“, Frankreich, 1995, Regie: Agnès Varda).
Bereits vor seinem Engagement als Romeo spielt Leonardo DiCaprio an der Seite von Diane Keaton, Meryl Streep und Robert DeNiro, den er zwischenzeitlich nicht nur als Freund, sondern auch als Ratgeber in Sachen Schauspielerei schätzen gelernt hatte, in „Marvin´s Room“ (Regie Jerry Zaks), der allerdings erst nach „William Shakespeare´s Romeo and Juliet“ in die Kinos kommen soll.
Da sich Baz Luhrmanns Film in erster Linie an ein junges Publikum richtet, will Leonardos erster Auftritt sorgfältig vorbereitet sein. Sicherlich gebührt ein Großteil der Anerkennung William Shakespeares Werk, doch versteht es Luhrmann, seinen Star zielgruppengerecht einzusetzen. So folgt Leonardo DiCaprios erster Auftritt unmittelbar nach der Konfrontation der beiden verfeindeten Familien, Capulet und Montague, bei Lt. Prince. Allein dramaturgisch bildet er somit einen starken Kontrast zu den Rivalitäten und Gewalttaten, die in schnell geschnittenen Bildern gezeigt werden. Die Schnittfrequenz wird sich nun jedoch deutlich verlangsamen, um Leonardo DiCaprio als ruhenden Pol einzuführen. Dies zeigt sich auch auf musikalischer Ebene. Das Stück „Talk Show Host“ von Radiohead ist der Szenerie am Strand, wo ich als Zuschauer erstmals auf Romeo treffe, unterlegt. Melancholisch, fast traurig und mit zerbrechlicher Stimme, angereichert mit wenigen Gitarrenklängen, wirkt es wie ein Spiegelbild von Romeos zerbrechlicher und verwundeter Seele.
Geschickt inszeniert Luhrmann die Einführung des Charakters, indem er ihn mir Schritt für Schritt vorstellt. Er vermeidet es konsequent, Leonardo DiCaprio mit einer einzigen Nahaufnahme vorzustellen, sondern zeigt ihn zunächst von hinten, wie er am Strand spazieren geht. Das starke Gegenlicht der aufgehenden Sonne, das die ganze Szenerie in ein romantisches Licht eintaucht, erschwert es zusätzlich, nähere Details von Romeo auszumachen. Dieser blickt verträumt in die Ferne, er wirkt abwesend und verdeutlicht bereits hier seinen Konflikt mit der Welt, in die er so gar nicht hineinzugehören scheint. Für Jugendliche, die gerade in der Pubertät und damit in einer für sie sehr schwierigen Lebenssituation sind, in der sie scheinbar von Niemandem und am allerwenigsten von den eigenen Eltern verstanden werden, ist genau diese Darstellung eine ideale Projektionsfläche, sind diese doch pausenlos auf der Suche nach romantischer Liebe, Anerkennung und Verständnis. Für Jugendliche bietet sich so die ideale Möglichkeit, alles, was man sich erhofft, in einem Star zu finden, denn dieser verkörpert ja mit seinen Filmen und/oder seiner Musik eben jene Wünsche.
Der Wunsch, einen Freund zu haben, der die/den Jugendliche/n nicht überfordert, sensibel und immer für einen da ist, reflektiert sich somit in der Darstellung Romeos, der eben jenen romantischen Idealen von Liebe und Beziehung nacheifert und an ihrer Nichterfüllung zu zerbrechen scheint. Sein Spaziergang am Meer reflektiert die romantische Sehnsucht nach Geborgenheit, ist aber auch bereits mit der Unabwendbarkeit des eigenen Schicksals, also seinem bevorstehenden Tod, behaftet, denn das kleine Boot im Hintergrund darf als Anlehnung an die ägyptische Mythologie verstanden werden, in der ein Toter vom Totenschiff und dessen Fährmann herüber in das Totenreich geholt wird.
Doch auch in der zweiten Einstellung, die Romeo zeigt, wird mir dieser in kleinen Schritten behutsam nähergebracht, er wird sozusagen optisch vorgestellt. Als Romeo auf der Mauer sitzt und die Kamera langsam an ihm nach oben gleitet, weicht er dieser aus und blickt, an der Zigarette ziehend, zur Seite, so als sei es ihm unangenehm, daß ihm die Kamera so nahe kommt. Erst als er mich an seinen Gedanken in Form des Tagebuches teilhaben läßt, blickt Romeo direkt in die Kamera und nimmt somit direkten Kontakt zu mir auf. Die Aussage, die dahinter steht, ist klar: Er will kein leichtes Opfer sein, daß sich jedem sofort anvertraut, nur um dann wieder leicht verletzbar zu sein. Sein Auftreten stellt ein Angebot dar, ihn zunächst behutsam kennenzulernen, an seinen Gedanken und Empfindungen teilhaben zu lassen und sich dann erst nach dieser Phase des Kennenlernens dem Gegenüber ganz öffnet. Auch optisch gestaltet sich diese Annäherung schrittweise, denn Leonardo DiCaprio erscheint nach wie vor im Gegenlicht, was ihn noch unfaßbar und unnahbar wirken läßt, ihm aber zusätzlich die Aura eines Heiligen verleiht. Das grelle Licht im Hintergrund leitet zudem automatisch den Blick des Zuschauers auf sein Gesicht. Ebenso tut es die Kulisse, denn der Torbogen, unter dem Romeo sitzt, verdeutlicht nicht nur den Bühnencharakter des Stückes, sondern dirigiert auch alle Blicke auf Romeo als Hauptdarsteller und wirkt somit quasi wie ein Spotlight.
Die Eintragungen in das Tagebuch stellen einen kleinen Kunstgriff Luhrmanns dar, denn diese Textpassage folgt im Originaltext erst einige Zeit später. Sie wird vorgezogen, um Romeos sensibles Wesen besser beschreiben zu können:
„Why then, O brwaling love, O loving hate,
O anything of, of nothing first create!
O heavy lightness, serious vanity,
Misshappen chaos of well-seeming forms,...“
Gerade mit dem Oxymoron „heavy lightness“ spielt Romeo auf das Hauptthema des Dramas, Liebe und Haß bzw. Tod, an. Es verdeutlicht aber auch die innere Zerrissenheit Romeos. Gerade durch die Tatsache, daß er seine Gedanken nur einem Tagebuch und keinem Freund anvertrauen kann, darf er als ideale Projektionsfigur eines jeden unverstandenen Teenagers gelten. Der Konfrontation mit seinen herannahenden Eltern weicht er aus, indem er zum Strand läuft. Er überquert eine Straße, die von allerhand Volk frequentiert wird. Sich ständig im Hintergrund haltend, lenkt Romeo eher die Blicke auf die Leute, die sich auf der Straße aufhalten: Ein ungewöhnlich dicker Mann, Prostituierte, Freier, Obdachlose, normale Menschen. Und obwohl sich Romeo unter ihnen bewegt, so wirkt er doch wie ein Fremdkörper, der nicht in diese Welt gehört und zu der er niemals gehören wird. Sein Gang zum Strand wird in slow motion gezeigt, was ihn fast schon schlafwandlerisch wirken läßt, so als bewege er sich in einem Traum. Während die Menschen überall um ihn herum sind, hält er Distanz zu ihnen, da er sich im Hintergrund des Bildes aufhält, immer auf der Suche nach Orientierung. Sein Gang endet an einem Kettenkarussell, das hier nicht nur seine romantische Art unterstreicht, sondern auch zeigt, daß es sich, hält man sich an das Original, bei Romeo und auch bei Julia um Menschen handelt, die erst an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen. Das Ziehen an der Zigarette darf somit auch als das einzige männliche Attribut gelten, dessen sich Leonardo DiCaprio bedient, zumal auch Leonardos Äußeres mit seinem jugendlichen Touch dieser Rolle sehr entgegenkommt.